Gibt es einen neuen Anlauf zur kapitalgedeckten Rente?
Der wissenschaftliche Beirat des Bundesfinanzministeriums diskutiert Möglichkeiten der Ausgestaltung
Die demografische Entwicklung in Deutschland stellt die Altersvorsorge vor enorme Herausforderungen: Die Zahl der Erwerbstätigen sinkt, die der Rentner steigt. Ohne erhebliche Subventionen aus Steuermitteln kann eine rein umlagefinanzierte, gesetzliche Rente in der bestehenden Form keine ausreichende Basisvorsorge mehr garantieren. Wegen dieses massiven Problems denkt die neue Bundesregierung über die Einführung einer sogenannten Aktienrente im Rahmen der gesetzlichen Rente und, als Nachfolgerin der Riester-Rente, einer privaten kapitalgedeckten Rente nach. In seiner Stellungnahme 02/2022 vom Mai diesen Jahres geht der wissenschaftliche Beirat beim Bundesfinanzministerium (BMF) der Frage nach, wie ein solches Modell aussehen müsste.
Das Papier des Beirats stellt erschreckende Simulationsrechnungen vor. Danach müssten ohne eine umfassende Rentenreform im Jahre 2050 nahezu 60 % des Bundeshaushaltes als Zuschuss in die Umlagefinanzierung fließen. Und laut einer Studie des Instituts für Finanz- und Aktuarwissenschaften (ifa) [1] genügt es nicht, an nur einer Stellschraube der Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) zu drehen. Würde lediglich der Beitragssatz erhöht, müsste er von derzeit 18,6 % auf 29,5 % im Jahr 2060 steigen. Im selben Zeitraum müsste das Renteneintrittsalter auf 77 Jahre angehoben werden, wenn man sich ausschließlich auf diesen Faktor konzentriere.
Diese extrem negativen Szenarios haben im BMF zu den Überlegungen in Sachen Aktienrente geführt. Ihnen zufolge soll ein Teil der gesetzlichen Rentenversicherungsbeiträge in einem von einer unabhängigen, öffentlich-rechtlichen Institution professionell verwalteten Aktienfonds angelegt werden. Als Anschubfinanzierung sind 10 Milliarden Euro aus dem Steuertopf vorgesehen. Im Bereich der privaten Altersvorsorge soll laut Koalitionsvertrag zusätzlich ein „öffentlich verantworteter Fonds mit einem effektiven und kostengünstigen Angebot mit Abwahlmöglichkeit“ geprüft werden. Darüber hinaus wollen die Koalitionsparteien „die gesetzliche Anerkennung privater Anlageprodukte mit höheren Renditen als Riester prüfen“. Von den Renditechancen am Kapitalmarkt erhofft sich die Regierung eine Entlastung des bestehenden Rentensystems. Die bisherige, freiwillige und in der Regel privat finanzierte Riester-Rente gilt als zu kompliziert und intransparent, was ihre Verbreitung von Anfang an behindert hat. Die neue kapitalgedeckte Rente dagegen soll – in Anlehnung an ein in Schweden praktiziertes Modell – standardisiert und einfach ausgestaltet werden.
Gründe für ein staatliches Eingreifen
Der Beirat hat in seiner Stellungnahme für das BMF folgende Gründe dafür genannt, warum effizienzsteigernde Eingriffe in das deutsche Altersversorgungssystem erforderlich sein könnten:
- Fehlende Kenntnisse über Finanzmärkte und Anlageformen in Teilen der Bevölkerung
- Eine mögliche Liquiditätsbeschränkung bei Investitionen am Kapitalmarkt, da Finanzinstitute vor der Gewährung eines Kredits, anders als beim Hausbau, keine finanziellen Vermögenswerte akzeptieren
- Das sogenannte Samariter-Dilemma, wonach Anreize zur privaten Vorsorge entfallen, wenn der Staat ohnehin niedrige Alterseinkünfte aus sozialpolitischen Gründen aufstockt
Keiner dieser Gründe jedoch mache die Einführung flächendeckender Pflichtbeiträge zu einem staatlich verwalteten, kapitalgedeckten Fonds zwingend erforderlich. Da dem BMF-Beirat nicht klar war, welche der genannten Fehlstellungen die Regierung primär korrigieren will, ging er vom politischen Willen aus, die Riester-Rente zu reformieren und eine kapitalgedeckte Rente in der breiten Bevölkerung zu etablieren. Das Gremium konzentrierte sich daher auf deren mögliche Ausgestaltung.
Kapitalanlage
Sollte es Pflichtbeiträge geben, empfiehlt der Beirat, die Mittel nach den Grundsätzen und Erkenntnissen der modernen Portfoliotheorie zu investieren. Eine Beitragsgarantie lehnt er ab, da sie Investitionen in renditeträchtige Anlageklassen deutlich erschwert. Zudem umfassen die Investitionsphasen in der Regel mehrere Jahrzehnte. Aktien unterliegen zwar mitunter starken Schwankungen, haben in der Vergangenheit aber fast durchgehend höhere Renditen erbracht als Staatsanleihen oder andere Schuldverschreibungen. Zudem ließen sich die Ersparnisse vor dem Eintritt in das Rentenalter sukzessive in sichere Anlagen umschichten.
Auszahlungsformen
Der BMF-Beirat schlägt eine Auszahlung in monatlichen Raten vor, um allen Teilnehmern eine Umrechnung des Kapitals zu ermöglichen. Bestünde ein Wahlrecht zwischen Kapital- oder Ratenzahlung müsste die Höhe der Letzteren erheblich vorsichtiger kalkuliert werden, da deren Nutzer erfahrungsgemäß länger leben. Aus den gleichen Gründen können freiwillige Zuzahlungen nicht zugelassen werden, denn diese würden bei Langlebigen durch die gute Ratenhöhe quersubventioniert. Sähe die Politik dagegen freiwillige Zuzahlungen vor, weil sie den langfristigen Vermögensaufbau in der Bevölkerung fördern will, müsste die Auszahlung als Einmalkapital erfolgen und ggf. vererbt werden können.
Sobald allerdings Fortschritte in der Informationstechnologie es ermöglichen, die Lebenserwartung jeder einzelnen Person gut einzuschätzen, könne es sowohl eine Wahlmöglichkeit bei der der Auszahlungsform als auch eine freiwillige Zuzahlung geben.
Vertrauen in die Kapitaldeckung
Von zentraler Bedeutung für den BMF-Beirat ist ein verlässlicher Vermögensaufbau. Das Anlagevermögen könne grundsätzlich von einem staatlichen Anbieter verwaltet werden. Dieser müsse jedoch – ähnlich wie die Bundesbank – politisch neutral und unabhängig sein. Den Anlegern solle aber die Möglichkeit geboten werden, zu einem regulierten privaten Anbieter zu wechseln. Wichtig sei die Stärkung der Aufsicht in Deutschland. Zur Frage des Vertrauens gehöre auch, dass bestehende Riester-Verträge durch eine Neuregelung nicht tangiert werden.
Förderung über Schulden
In seiner Stellungnahme diskutiert der Beirat auch, inwieweit eine Schuldenfinanzierung durch den Staat eine Förderung ermöglicht, die noch über das schwedische Modell hinausgeht. Denn den sehr niedrigen Zinssätzen auf staatliche Schuldtitel steht erwartungsgemäß eine höhere Rendite privater Investitionen gegenüber. Die Schulden, die der Anschubfinanzierung dienen, müssten zwar bei Rentenbeginn zurückgezahlt werden. Die Erträge aus der Differenz zwischen Kapitalmarktrendite und den Zinsen auf die Staatsanleihen verbliebe aber als Förderung bei den Anlegern.
Die Verschuldung zum Erwerb von Wertpapieren wird volkswirtschaftlich als weniger kritisch angesehen als die reguläre Staatsverschuldung. Insofern könne man dieses Modell über die gesetzlich versicherten Erwerbstätigen hinaus auf alle Bürger ausweiten, eventuell sogar von Geburt an. Es stellten sich dann aber Abgrenzungsfragen in Bezug auf Migranten. Zudem seien die Grenzen für die Verschuldung im Rahmen insbesondere der europäischen Fiskalregeln zu beachten.
Fazit und Ausblick
Die Herausforderungen der 2030er Jahre machen weitgehende Reformen der Altersvorsorge in Deutschland unabdingbar. In der GRV bedeutet dies laut ifa-Studie nicht nur die Einführung der Aktienrente und einer privaten kapitalgedeckten Rente , sondern auch die Abkehr von der „doppelten Haltelinie“ (Sicherungsniveau nicht unter 48 %, Beitragssatz nicht über 20 %) und eine Erhöhung des Renteneintrittsalters, „idealerweise gekoppelt an die Lebenserwartung“. Auch wenn eine umfassende Reform der Riester-Rente große Chancen für die private Vorsorge biete, sollten nach Ansicht des wissenschaftlichen Beirats im BMF die Möglichkeiten für die Einrichtung eines staatlichen Fonds und die damit verbundenen Risiken sorgfältig abgewogen werden.
Insofern ist fraglich, ob es zu einer raschen Umsetzung der Aktienrente und/oder der kapitalgedeckten Rente kommt. Zumal es auch kritische Stimmen gibt: Das Institut der deutschen Wirtschaft sieht beispielsweise den Sozialstaat erst dann gefordert, wenn die Alterseinkünfte tatsächlich zu gering ausfallen [2]. Es gebe außerhalb der gesetzlichen Rente bereits jetzt zielführende Alternativen.
Schnell handeln könnte die Regierung bei der seit vielen Jahrzehnten bewährten betrieblichen Altersversorgung (bAV), deren Stärkung der Koalitionsvertrag ohnehin vorsieht. Unter anderem soll es „die Erlaubnis von Anlagemöglichkeiten mit höheren Renditen“ geben. Der Grundgedanke, die Altersvorsorge stärker über den Kapitalmarkt abzusichern, gilt auch dort. Das Sozialpartnermodell mit seiner reinen Beitragszusage, stellt aufgrund seiner Beschränkung der Steuer- und Sozialversicherungsfreiheit lediglich eine Basisvorsorge dar. Insofern könnte man die Beseitigung der Beitragsgarantie, wie der BMF-Beirat sie für die kapitalgedeckte Rente empfiehlt, im Bereich der bAV noch weiter ausdehnen.
[1] Jochen Ruß, Alexander Kling, Andreas Seyboth: Thesen zur Zukunft der Altersvorsorge in Deutschland, März 2022
[2] Michael Hüther, Jochen Pimpertz: „Besser keine Aktienrente“, Gastbeitrag im Tagesspiegel vom 6. Oktober 2022
Autor: Dr. Carsten Schmid, Lurse